Bis vor wenigen Jahrzehnten fristete das Singen in der Musiktherapie noch ein kümmerliches Schattendasein. Doch gerade in den letzten Jahren sind die vielfältigen gesundheitsfördernden Wirkungen des Singens ins Interesse der wissensschaftlichen Forschung gerückt.

Singen wird von vielen Wissenschaftlern sogar als Ursprache des Menschen angesehen. Bevor wir die Fähigkeit zu sprechen erlangen, sind wir alle geborene Sänger!

Dabei soll Singen als natürliche menschliche Ressource ganz deutlich vom Gesang als Kunstform unterschieden werden.

Während der Kunstgesang von einem kunstspezifischem Ausdrucksapekt und der künstlerischen Interpretation sowie einer Hinwendung an ein Publikum getragen wird, ist Singen, oder auch “Heilsames Singen” (ein Begriff, den der Musikpsychologe Karl Adamek geprägt hat), frei von jeglichem Leistungsdenken und nicht ergebnisorientiert. 

Erst in der absichtslosen Freude des Augenblicks kann es Selbstheilungskräfte aktivieren.

Physische und psychische Wirkungen des Singens

Jeder, der gerne singt, ob in einem Chor oder allein in der Badewanne, weiß, wie gut Singen tut.
Aber in den letzten Jahrzehnten hat man begonnen, die Wirkung des Singens auch empirisch zu erforschen.

Lange bekannt ist, dass Singen die Atmung vertieft, was zu einer besseren Durchblutung und Entgiftung des Körpers führt.

Bei der vertieften Atmung werden Zellen besser mit Sauerstoff versorgt. 
Das Lymphsystem wird aktiviert. Stoffwechselschlacken können so schneller abgebaut werden. 
Durch Hebung und Senkung des Zwerchfells bei der sogenannten "Vollatmung" wird die Darmtätigkeit angeregt. 
Überdies verbessert sich durch die tiefe Atmung auch die Körperhaltung. 
Muskeln, die im Zusammenhang mit der Kontraktionsbewegung des Zwerchfells stehen, werden gestärkt.
Singen ist somit eine wirksame Atemtherapie!

Doch neuere Forschungen haben ergeben: die Atmung wird nicht nur tiefer, sondern verlangsamt sich auch. 
Insbesondere beim Singen von ruhigen, gefühlvollen Liedern oder Mantren wird der Parasympatikus angeregt und die Hirnwellen geraten von dem schnellen Beta- in den entschleunigten Alpha- und Deltabereich.

Schon Schamanen verschiedener Naturvölker haben sich dieses Wissen zunutze gemacht. Das Singen führt zu einer Entspannungsreaktion und einem veränderten Wachbewusstsein und der Singende erlebt ein losgelöstes Glücksgefühl, ähnlich wie bei einer tiefen Meditation. 
Der Musikpsychologe Karl Adamek spricht davon, das sich der Mensch beim Singen
selbst in Schwingung versetzt und dadurch Eigenresonanz erzeugt. 
Das habe starke positive Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit.

Tatsächlich können sich so Körperrhythmen synchronisieren und üben einen regulierenden Einfluss auf den Schlaf- und Wachrhythmus aus - also auf unsere Zirbeldrüse!

Singen fördert ausserdem die Herz-Kreislauf- Fitness. Man hat nachgewiesen, dass professionelle Sänger eine ähnliche Herzratenvariabilität aufweisen wie Dauerläufer. 

Für Menschen, die motorisch eingeschränkt sind, ist Singen daher eine wunderbare Möglichkeit, körperlich aktiv zu bleiben.

Zwei Studien, die mit Chorsängern durchgeführt wurden, haben bewiesen, dass auch das Imunsystem durch Singen stabilisiert wird. Während des Singens stieg das Imunglobulin A der Probanden um bis zu 240%.

Gleichzeitig wurde in dieser Studie herausgefunden, dass beim Singen Stresshormone wie Kortisol und Adrenalin abgebaut werden. 

Eine Wiener Studie hat gezeigt, dass es beim Singen von Lieblingsliedern zur Ausschüttung sogenannter Glückshormone wie Serotonin, Noradrenalin, Beta- Endorphine sowie dem „Kuschelhormon“ Oxytocin kommt. 

Thomas Biegl konnte in seiner 2004 vorgelegten Diplomarbeit “Glücklich singen- singend glücklich?”erstmals endokrinologisch nachweisen, dass Singen wie ein Stimmungsaufheller, ein natürliches Anti-depressivum, wirkt. 

Singen macht glücklich.

Singen schaltet vorübergehend Angstzentren im Gehirn aus.
Das ist eine wirklich machtvolle Wirkung, die auch leicht zu manipulativen Zwecken missbraucht werden kann und auch immer wieder missbraucht wird: nicht umsonst lässt man Soldaten singend in den Krieg ziehen!

Man denke aber auch an die herzzerreißende Geschichte des Pädagogen Janusz Korczak, der 1942 zusammen mit den Kindern seines Waisenhauses singend in die Gaskammer des Vernichtungslagers Treblinka marschierte, um den Kindern den Übergang vom Leben zum Tod zu erleichtern.

Das 2009 gegründete Netzwerk Singende Krankenäuser e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, in Gesundheitseinrichtungen und Altersheimen durch Heilsames Singen eine salutogenetische, also gesundheitsfördernde Atmosphäre ohne Angst zu errichten.

 "Es gibt kein besseres und wirksameres Mittel, das psychoemotionale Belastungen auflöst, Lebensmut stärkt und Selbstheilungskräfte reaktiviert als das Singen.", äussert sich der Gehirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther in der Infobroschüre des Netzwerks. "So werden aus Krankenhäusern singende Gesundwerdhäuser!"

Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass sich Singen auf die Empathiefähigkeit positiv auswirkt. Menschen, die viel singen, fühlen sich sozial verantwortlicher und sind hilfsbereiter als Nichtsinger.

Das Singen in der Gruppe befördert zudem ein Gemeinschaftsgefühl, wenn die einzelne Stimme mit denen der anderen zu einem harmonischen Gesamtklang verschmilzt. 
Viele von uns kennen vermutlich die berauschende Wirkung, wenn man im Fussballstadion sitzt und plötzlich aus tausenden Kehlen ein Lied erschallt.

"Diese einzigartige Möglichkeit der synchronen Kommunikation von Menschen, bei der sie dazu auch noch ihre Befindlichkeiten synergetisieren, stellt eine einzigartige Erfahrungsdimension der sozialen Natur des Menschen dar“, sagt Adamek.
Gerade für Menschen, die unter Einsamkeit und Depressionen leiden, kann das gemeinschaftliche Erleben innere Blockaden lösen und wieder Kontakt zu den eigenen Gefühlen herstellen.

Singen kann sprachliche Kompetenzen aktivieren, was am Beispiel von Aphasikern, also Menschen, die aufgrund einer neurologischen Erkrankung, eines Schlaganfalls oder Unfalls, ihr Sprachvermögen eingebüßt haben, eindrucksvoll bestätigt wird. Der aus Deutschland stammende Musiker und Neurologe Gottfried Schlaug von der Harvard Medical School in Boston hat eine Methode entwickelt, die sich "Melodische
Intonationstherapie" (Melodic Intonation Therapy) nennt und mit der es sogar möglich sein soll, Aphasikern über das Singen zurück zur Sprache zu verhelfen. 

 Auch demente Menschen, die oft nicht mehr sprechen können, singen plötzlich mehrere Strophen eines Volksliedes fehlerfrei. Dieses Erfolgserlebnis stärkt das Selbstbewusstsein, bündelt die Aufmerksamkeit und setzt die innere Unruhe der Demenzkranken für eine Weile herab.

Den Grund, warum Singen und Musizieren als Kompetenz selbst bei stark zerstörten Gehirnen, wie beispielsweise bei Alzheimer Patienten im fortgeschrittenen Stadium, noch intakt bleibt, haben in einer neuen bahnbrechenden Studie Forscher am Max Planck Institut herausgefunden: Jörn- Henrik Jacobsen, der als Wissenschaftler federführend beteiligt war, bezeichnet es als die erste neurowissenschaftliche Studie, die eine anatomische Erklärung für den Erhalt des Musikgedächtnisses liefert. 

Mit Hilfe von funktionellen Ultrahochfeld-Magnetresonanzmessungen wurde es möglich, die Hirnareale für das Langzeit- Musikgedächtnis zu lokalisieren. Es wurde ein Gebiet in der sogenannten supplementär- motorischen Hirnrinde identifiziert, dass sich als äußerst resistent gegen die Degeneration von Nervenzellen erwies. Dort sitzt das Gedächtnis der Bewegung und Handlung und nutzt primitive, tief gelegene Areale des Gehirns. 
Das erklärt auch, warum Musik und Bewegung so eng verknüpft sind.

Über Musik und Bewegung ist es dem dementiell Erkrankten dann nicht nur möglich, verlorene Erinnerungen und Emotionen ins Gedächtnis zu rufen und wieder erfahrbar zu machen. 

Es bestehen aufgrund dieser Studie sogar Mutmaßungen, dass der unversehrte Teil des Gehirns, in dem das Musikgedächtnis abgespeichert wird, andere Hirnanteile kompensatorisch ausgleichen kann. 

Das würde in Zukunft vielleicht neue Chancen auf Therapie und sogar Linderung des Krankheitsverlaufs bei Alzheimer eröffnen und der Musiktherapie dabei eine viel relevantere Rolle zuweisen.

Singen als emotionale Bewältigungsstrategie

In allen Völkern und zu allen Zeiten haben Menschen Musik und vor allem Gesang genutzt, um emotionales Ungleichgewicht wieder in Balance zu bringen. 

Ob durch die Heilgesänge der Schamanen, die Mantren der Sufis und Ayurveden oder die Volkslieder aus alles Welt: mit der Fähigkeit, durch Schwingung unserer Stimmbänder Töne zu erzeugen, ist uns von Natur ein Mittel gegeben worden, negative Emotionen, Depression,Trauer, Angst und Aggressionen in Lebensmut und konstruktive Tatkraft umzuwandeln.

Ein besonders eindrückliches musikhistorisches Phänomen, wie Singen als psychische Überlebenshilfe genutzt werden kann, sind die Negro- Spirituals, die durch afrikanische Sklaven in den USA entstanden sind und die schließlich die Musikentwicklung des Jazz bis zur heutigen Popmusik maßgeblich beeinflusst haben. Diese Menschen, die gegen ihren Willen aus ihrer afrikanischen Heimat verschleppt und zur harten Feldarbeit in den Südstaaten der USA gezwungen wurden, sangen Lieder über ihr unerträgliches Leid, um daran schier nicht zugrunde zu gehen.

Viele von uns können sich an Momente im Leben erinnern, meistens als wir Kinder waren,wo wir angefangen haben, leise vor uns hin zu singen oder zu summen, weil uns etwas geängstigt hat, wie zum Beispiel der gefürchtete Gang in den dunklen Keller. Dabei bedienten wir uns intuitiv einer Bewältigungsstrategie, die uns half, mit der angsterregenden Situation umzugehen. 
Denn wie bereits erörtert: Singen schaltet die Angst aus.


Karl Adamek hat in seiner Forschungsarbeit die Funktion des Singens als Emotionsbewältigung empirisch nachweisen können und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nahezu alle Emotionen durch Singen bewältigt werden können.
Dabei unterscheidet er drei Hauptfunktionen des Singens:

Singen als Energieintegrator, 
Singen als Energiegenerator und 
Singen als Energietransformator.

Beim Singen als Energieintegrator geht es um Entspannung für Psyche und Physis, der Singende kann überschüssige Energie aus positiven und negativen Gefühlsregungen kanalisieren und integrieren.

Singen als Energiegenerator bedeutet die Freisetzung physischer und psychischer Energieressourcen sowohl aus positiven als auch negativ empfundenen Emotionen und führt zur Erzeugung eines hohen ernergetischen Zustands.

Singen als Energietransformator schließlich setzt einen der vorangegangenen Funktionen voraus und hebt bisher unbewusste psychische Prozesse ins Bewusstsein, wo sie durch Selbstreflexion aufgearbeitet werden können, um das eigene System wieder in Balance zu bringen. 

Dabei geht es nicht darum, schön zu singen, sondern man kann sich auch schluchzenden, klagenden und sogar schreienden Äußerungen bedienen. 
Auch Summen oder stilles Singen, bei dem nur der fließende Atem wahrgenommen wird, kann durch die Kraft des momentanen Selbstausdrucks eine positive Wandlung in der Simmung des Singenden bewirken. 

In sogenannten Heilsamen Singkursen, die vor allem den Menschen ans Herz gelegt werden sollten, die glauben, eigentlich nicht singen zu können, geht es genau darum, diese selbst auferlegten Schranken zu durchbrechen. 

Wie vielen von uns wurde irgendwann in der Kindheit, meist von wohlmeinenden Eltern oder Pädagogen, zu verstehen gegeben, dass ihre Singstimme nicht genüge und diese damit lebenslang zum Schweigen gebracht.

In der heutigen Gesellschaft, wo ohnehin alles immer und überall öffentlich bewertet und kritisiert wird, ist es für solche Personen dann unmöglich, das Unvollkommene ihrer
Stimme liebevoll anzuerkennen und es als Ausdruck ihrer Individualität zu betrachten.

Übermächtig ist daher die Scheu, sich bloßzustellen.
Wenn diese Menschen dann -zunächst nur zögerlich -beginnen, sich in der vertrauensvollen Atmosphäre eines Singkreises zu öffnen, miteinander zu tönen und sich mit den anderen zu einem einzigartigen Gesamtklang vereinen, ist es nicht selten, dass der eine oder andere von Rührung und jahrelang zurückgehaltenen Emotionen überwältigt wird und in Tränen ausbricht.

Doch sind diese Tränen nur das erste Zeichen eines beginnenden Heilungsprozesses. Wenn seelische Blockaden sich lösen, ist man bald fähig, durch Singen in einen Zustand des schwebenden Fließens zu gelangen, auch "Flow" genannt. 
Einen Zustand, den man in der Meditation erst nach jahrelanger Übung erreicht. Aber mehr noch: über die Erfahrung der eigenen Stimme als heilsame Instanz liegt die einzigartige Ressource, in sich und mit sich stimm-ig zu werden.

Ausblick -
Wiederbelebung der Singkultur als gesellschaftliche Aufgabe


In frühreren Jahrhunderten gehörte das regelmäßige gemeinsame Singen zum häuslichen Alltag.

Leider ist Singen als Schulfach seit der Mitte der Sechziger Jahre in allgemeinbildenden Schulen aufgrund des Missbrauchs waehrend des Nationalsozialismus weitgehend abgeschafft worden und hat hierzulande eine gesanglose, ja gesangfeindliche Gesellschaft entstehen lassen.

Damit haben "die meisten Menschen in Deutschland den Zugang zum Singen als Selbstausdruck und damit zu einer für das Menschsein einzigarigen Quelle von Gesundheit durch Schwingung verloren“, meint Karl Adamek.

Seit einigen Jahren bemühen sich jedoch Institutionen und Vereine, wie zum Beispiel 
"Il canto del mondo" unter der Schirmherrschaft von Yehudi Menuhin um die Wiederbelebung der Alltagskultur des Singens. 

Auch immer mehr städtische Musikschulen tragen mit ihren Förderprogrammen "Jekisti"("Jedem Kind seine Stimme") und "Jekits" (“Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen”) zu einer erneuerten Gesangskultur in Kindergärten und Schulen bei.

Das schon erwähnte internationale Netzwerk "Singende Krankenhäuser e.V." setzt sich für die Förderung des Singens in Gesundheitseinrichtungen ein.

Aber im Alltag der meisten Menschen ist Singen noch längst nicht angekommen.
Wer allerdings einmal die wohltuende Wirkung eines gemeinschaftlichen Singens, wie zum Beispiel in einem Chor oder einem offenen Singkreis, erlebt hat, der sucht diese Erfahrung immer wieder.

Es wäre vielleicht schon ein Anfang, wenn man sich ab und zu statt zum Bummeln oder Fußball- Gucken zum gemeinsamen Singen verabreden würde. 
Statt einer Party könnte auch einmal ein Hausmusikabend veranstaltet werden. Sicher ist: es würde unsere Gesellschaft viel ausgeglichener und auch friedlicher machen.
Denn Singen ist nicht nur ein schönes Extra, dass uns den Alltag versüßen soll: “Singen ist ein Existential des Menschen”.(Adamek)

Es gilt also, die geschichtspsychologisch blockierte Tradition des Singens wie einen verlorenen Schatz auszugraben und von der Patina aus vererbten Misstrauen zu befreien. 

Nicht nur, weil es der Pflege unseres kulturellen Erbes dient, sondern weil regelmäßig praktiziertes Singen nachweislich zu mehr Mitgefühl, Ausgeglichenheit und Lebensfreude führt und uns befähigt, mit belastenden Lebensereignissen sowie den psychischen Altlasten unserer geschichtsbedingten Verletzungen besser umzugehen- 
um vielleicht sogar Erkrankungen wie Demenz vorbeugen oder sie zumindest , durch den Aufbau eines musikalischen Langzeitgedächtnisses als resistente Trutzburg gegen neurologischen Verfall, wirksam lindern zu können.